Die Affen der Lüfte |
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„Achtung, Kinder!”, ruft Christian Schlögl von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, bevor er die Käfigtür öffnet. „Man muss sie vorwarnen, sonst erschrecken sie.” Schlögls Kinder sind Raben, genauer Kolkraben: Gwaihir, der Ranghöchste, Ilias, sein Bruder, und deren Weibchen, Nemo und Columbo. „Sie verstehen ihre Namen”, sagt Schlögl. „Aber ob sie darauf reagieren, entscheiden sie selbst. Nicht wie Hunde, die kommen, wenn man sie ruft.” | 1 |
In der Voliere1 beginnt Schlögl, Fleischreste zu verteilen. Die Raben packen die Knochen mit dem Schnabel und fliegen scheinbar planlos hin und her. Da passiert es: Nemo landet hinter einem Felsbrocken, wo zwei der anderen sie nicht sehen können. Hier wartet sie ab, bis auch der dritte Rabe ihr Blickfeld verlässt – dann gräbt sie blitzschnell mit ein paar Schnabelhieben ein Loch in den Boden, lässt den Knochen darin verschwinden und deckt das Versteck mit einem hastig abgetrennten Grasziegel zu. Keiner der Käfiggenossen hat etwas bemerkt. | 2 |
Die Klugheit der Raben ist sprichwörtlich. Doch erst vor etwa zehn Jahren begannen Wissenschaftler, die besonderen Fähigkeiten der Vögel zu erforschen. Sie entdeckten, dass Raben ähnliche Denkleistungen erbringen wie Schimpansen oder Gorillas. „Rabenvögel sind so etwas wie gefiederte Menschenaffen”, meint Nathan Emery von der Cambridge University. So vermögen Kolkraben zum Beispiel, den Blicken von Artgenossen zu folgen und einzuschätzen, ob der andere etwas sieht, was sie selbst nicht sehen können. In Experimenten flatterten sie gar auf Hindernisse und schauten nach, was der Kollege dahinter gesehen haben könnte – ein Verhalten, das man sonst nur bei Schimpansen findet. Auch zum taktischen Betrug sind Kolkraben imstande: Wenn dominante Artgenossen in der Nähe sind, suchen niederrangige Tiere ihr verstecktes Futter bewusst am falschen Ort, um die Mächtigen in die Irre zu führen. Genau den gleichen Trick verwenden Schimpansen. | 3 |
Es gehe darum, so Thomas Bugnyar, ein Kollege von Christian Schlögl und Verhaltensforscher, dem Konkurrenten gedanklich stets einen Schritt voraus zu sein. Ein Rabe muss sich in sein Gegenüber hineinversetzen, Vermutungen über dessen Pläne anstellen und auf dieser Basis seine eigene Taktik wählen – eine intellektuelle Höchstleistung. Es gibt sogar Berichte, wonach sich Raben neben Kadavern2 tot stellen, wenn sich ein Artgenosse nähert, damit dieser meint, das Fleisch sei verdorben. | 4 |
Gleichzeitig sind die Vögel auf die Zusammenarbeit mit ihren Artgenossen angewiesen, besonders die Jungtiere, die noch kein eigenes Revier haben. Erwachsene Raben herrschen als Paare, die ihr Leben lang beisammen bleiben, über abgesteckte Gebiete. Kadaver, die in ihrem Revier anfallen, verteidigen sie vehement. Gegen solch ein kämpferisches ortsansässiges Pärchen haben jugendliche Raben erst eine Chance, wenn sie mindestens zu neunt sind. Deshalb bilden sie Banden. Sie fressen und flirten miteinander, schlafen auf demselben Schlafbaum, treiben Schabernack: Sie ärgern vorbeifliegende Adler, picken Hirsche in den Hintern, rodeln auf dem Rücken verschneite Hänge hinunter und lassen aus der Luft Schneebälle auf Kollegen am Boden fallen. Hier finden sich Paare, hier entwickelt sich eine Rangordnung. | 5 |
Es ist diese Mischung aus Konkurrenz und Kooperation, die der Entwicklung von Intelligenz so förderlich ist. Sie lässt eine komplexe Gemeinschaft entstehen, in der die Mitglieder untereinander individuelle, vielschichtige Beziehungen pflegen. Und das erfordert Köpfchen. „Grasende Huftiere können zu Zehntausenden zusammenleben, ohne dass sich soziale Komplexität entwickelt”, betont Anna Braun von der Konrad-Lorenz-Forschungsstelle, in der Gwaihir und seine Kollegen die Wissenschaftler immer wieder verblüffen. | 6 |
Mathias Plüss, Die Affen der Lüfte, in: DIE ZEIT Nr. 26 vom 21.07.2007 | |
1 Voliere: großes Vogelhaus mit Raum zum Umherfliegen → zurück 2 Kadaver: toter (Tier)körper → zurück |