Mach es anders!

 
Olympische Spiele 2012. Das Meer in Weymouth ist grau und schaumig beim letzten Rennen der Segler. Zehn Schiffe sind im Feld. Robert Stanjek und sein Kollege im deutschen Boot liegen vorn, als die britischen Favoriten angreifen. Wind, Wellen, Wolken — alles spielt jetzt eine Rolle. Die beiden Deutschen müssen schnell entscheiden, schreien sich die neue Taktik zu. Die Handgriffe laufen automatisch. Keinen Gedanken verschwenden sie daran, welche Leine sie zuerst bedienen müssen oder wie sie den Fuß setzen, wenn sie unter dem Baum1 durchtauchen. Eine Tonne Schiff, 30 Quadratmeter Segel gegen den Wind, routiniert ziehen sie mit den Briten mit. 1
Auch die Handgriffe der Angestellten Christina Sold sitzen, morgens auf dem Bahnsteig. Sie denkt nicht darüber nach, wenn sie in ihre Jackentasche greift, das Päckchen herausholt und die Zigarette anzündet. Erst beim Ausatmen, wenn sie die Glut an dem mickrigen Stängelchen sieht und frierend in der Raucherecke steht, denkt sie, dass sie das eigentlich nicht braucht — und trotzdem tut. Der Unterschied zwischen beiden Beispielen ist vor allem, dass Christina Sold ihre zur Sucht gewordene Gewohnheit gerne ablegen würde, während Robert Stanjek seine Gewohnheiten zum Gewinnen benötigt. 2
Gewohnheiten bestimmen unser Leben — ob sie hilfreich sind oder schaden. Im Verborgenen lotsen sie uns durch den Tag: Wie lange wir morgens brauchen, welche Musik wir wählen, wie oft wir unsere E-Mails checken, Sport treiben oder auf welche Art wir mit unseren Kindern sprechen — all das bestimmen Gewohnheiten. „Zwischen 30 und 50 Prozent unseres täglichen Handelns werden durch Gewohnheiten bestimmt, Informationen ändern daran so gut wie nichts”, sagt Bas Verplanken. Der Professor für Sozialpsychologie erforscht die Gewohnheiten seit über Jahren. Wenn sie mit unseren Zielen übereinstimmen, sind sie uns nützlich, manchmal sogar überlebenswichtig. Tun sie das nicht, stören sie oft nur, rauben uns Zeit, Energie und schädigen manchmal auch unsere Gesundheit — wie zum Beispiel der Griff nach einer Zigarette. 3
Das Gehirn unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Gewohnheiten. Hat sich ein Verhalten einmal eingeschliffen, ist es sehr schwer, es zu ändern, auch wenn wir uns das fest vornehmen. Trotzdem — oder gerade deshalb — können wir uns Gewohnheiten zunutze machen. Wer weiß, wie ihre Mechanismen funktionieren und wo sie ansetzen, der kann sie verändern. Nicht nur die eigenen, sondern auch die in der Firma, im Freundeskreis oder in der Gesellschaft. Auch im ganz Großen gilt: Viele Gewohnheiten sind keine Zufallsprodukte — sie zeigen, in welcher Welt wir leben. Wenn ein Vater heute routiniert die Windeln seiner Tochter wechselt, dann auch, weil er Elternzeit nehmen kann und engagierte Väter heute nicht mehr belächelt werden. Wenn Menschen Müll trennen oder ihr Auto zu Hause stehen lassen, dann oft dort, wo die Voraussetzungen stimmen: Die verschiedenen Tonnen stehen direkt am Haus, das Netz des öffentlichen Nahverkehrs ist gut ausgebaut. 4
Manchmal kann ein von oben angeordnetes Verhalten sogar zu einer Leben rettenden Gewohnheit werden. In den siebziger Jahren scheiterten viele Informations-kampagnen zum Angurten im Auto, das manche sogar für gefährlich hielten. Erst als 1984 das Nichtanschnallen tatsächlich unter Strafe gestellt wurde, änderte sich etwas. Innerhalb kürzester Zeit schnallten sich statt zuvor 60 Prozent sogar 90 Prozent der Autofahrer an. „Wir denken immer zuerst daran, die Einstellungen zu ändern, um dann zum Verhalten zu kommen. Umgekehrt müsste es sein”, sagt der Sozialpsychologe Verplanken. „Wenn wir es schaffen, das Verhalten zu ändern, ändert sich auch das Denken.” Heute überleben hierzulande dank der Gewohnheit, sich anzuschnallen, etwa 2.000 Menschen jährlich einen Unfall, bei dem sie sonst gestorben wären. 5

1 Baum: unten am Mast waagrecht angebrachte Stange, die das Segel spannt → zurück